Wissen in Bewegung

11. + 12. Juni 2015
ZKM | Zentrum für Kunst- und Medientechnologie
Karlsruhe


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Abstracts zu den Vorträgen
(in alphabetischer Reihenfolge)


Andreas Ackermann (Koblenz)
Bedeutung und Sein / oder: welches Wissen konstituiert ethnographischer Film? Am Beispiel der Filme und Schriften David MacDougalls.

Die Diskussion um das Potenzial einer Visuellen Ethnologie ist letztlich so alt wie der Versuch ihrer Etablierung innerhalb der Disziplin. Dabei lassen sich zwei Kernthemen rekonstruieren: Erstens die Frage nach der Objektivität bzw. dem epistemologischen Status des Bildes und zweitens das Problem der Privilegierung des Textes gegenüber dem Bild im wissenschaftlichen Diskurs.

Margaret Mead beispielsweise sah die Aufgabe des Mediums Bild bzw. Film zuallererst in einer lückenlosen, strikt ‚objektiven’ Dokumentation kulturell geprägten menschlichen Verhaltens durch eine stationäre Kamera, die – weder aufgezogen, geladen oder nachgestellt – zum quasi unsichtbaren Bestandteil der Szenerie wird, und solchermaßen das aufgenommene Material als ‚authentisch’ beglaubigt: „what it records did happen“ (Mead 1975, 7). Damit steht sie paradigmatisch für eine Position, die sich vom Objektivitätsversprechen des Bildes leiten lässt und sich der Dokumentation sichtbarer kultureller Formen verschreibt. Interessanterweise ist dieser positivistischen Position schon frühzeitig widersprochen worden, und zwar ausgerechnet von Meads damaligem Ehemann Gregory Bateson. Im Gegensatz zu Mead ging es Bateson nicht um die Leugnung, sondern um die Akzentuierung der Perspektive des Filmemachers, der die Kamera nicht einfach laufen lässt, sondern sie kontrolliert: “I’m talking about having control of a camera. You’re talking about putting a dead camera on top of a bloody tripod. It sees nothing” (Mead/Bateson 1977, 79).
Im Hinblick auf den Stellenwert bzw. das Verhältnis von Bild und Text im Diskurs der Disziplin zeigt sich, dass nach durchaus enthusiastischen Anfängen die Verwendung von Fotografien in wissenschaftlichen Publikationen – wenn auch nicht zur wissenschaftlichen Analyse und Erkenntnis, sondern als Illustration und Beweismittel – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stetig zurückging. Dies gilt übrigens auch für die Soziologie, wo die Fotos, die vormals die ‚soziale Welt’ der Untersuchten abgebildet hatten, zusehends durch Tabellen, Zahlen und Grafiken ersetzt wurden. Die Forscher der Chicago School unter Robert E. Park und William I. Thomas etwa dokumentierten die Wohnviertel und Subkulturen Chicagos ausschließlich mit ‚Stift und Papier’.
        Dieser Umstand scheint einer Entwicklung geschuldet, die in die „(Selbst-)Bindung“ (Tinapp) der Geistes- und Sozial- bzw. später dann Kulturwissenschaften an die Schrift mündet. Diese Privilegierung der Schrift erscheint allerdings keineswegs selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass in vielen Kulturen jahrhundertelang der Ausdrucksform, Gestaltungskraft, Erzähl– und Wahrheitsfähigkeit von Bildern durchaus vertraut wurde. Erst in dem Maße, in dem Schriftlichkeit und Texte zu Garanten der Intersubjektivität und ‚Objektivität’ werden, entsteht das Misstrauen gegenüber der angeblichen Mehrdeutigkeit der Bilder. Das hängt zum einen damit zusammen, dass mit der Fixierung auf die Textlektüre die Fähigkeit der Bildentschlüsselung abnimmt und zum anderen, dass man sich der Mehrdeutigkeit oder gar Ambivalenz von Texten erst im Laufe der Zeit bewusst wird (Tinapp 2005, 16). So kommt es, dass der linear und abstrakt argumentierende Text immer häufiger gegen das Bild ausgespielt wird, dem einerseits die Theoriefähigkeit und damit letztlich die Wissenschaftlichkeit abgesprochen und andererseits lediglich die Qualität ‚dünner’ Beschreibung zuerkannt wird, im Gegensatz zur ‚dichten’ (Geertz) Beschreibungsqualität geschriebener Texte (Hastrup 1992).
        Diesem Verdikt ist von Seiten Visueller Ethnologen deutlich widersprochen worden. David MacDougall, einer der einflussreichsten ethnologischen Filmemacher und Autoren der letzten 40 Jahre, argumentiert beispielsweise, dass die Visuelle Ethnologie im Vergleich zur textbasierten Ethnologie sowohl andere Möglichkeiten des Verstehens als auch andere Gegenstandsbereiche eröffnen kann (MacDougall 1997, 287). Er plädiert deshalb dafür, im Kontext der Wissensproduktion Bild und Text nicht alternativ bzw. konkurrierend, sondern komplementär einzusetzen. Visuelle Ethnologie kann weder eine Kopie textbasierter Ethnologie darstellen, noch diese ersetzen; sie muss deshalb alternative Ziele und Methoden entwickeln, von der dann die Ethnologie insgesamt profitieren kann (MacDougall 1997, 292-293). MacDougall schlägt in diesem Sinne vor, ein neues Feld der Repräsentation zu eröffnen, das sich mit Stephen Tyler als „Evokation“ bzw. mit Roland Barthes als „Figuration“ bezeichnen lässt (MacDougall 1997, 288). Mein Beitrag will diese Position näher erläutern und anhand von Beispielen illustrieren.



Hans-Jürgen Bucher (Trier)
Können Erklärfilme erklären? Befunde zu einem Fernsehformat der Wissenschaftskommunikation

Erklärfilme sind ein Standardformat von Wissenschaftssendungen im Fernsehen. Ihr funktionaler Sinn besteht darin, mit visuellen und auditiven Mitteln wissenschaftliche Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen – und das nach Möglichkeit besser, als es eine rein sprachliche Erklärung kann. Aber leisten sie das auch? Oder: Welche Kriterien müssen sie erfüllen, damit sie ihren Zweck erfüllen? Um diese Fragen theoretisch und methodisch zu operationalisieren, werden in dem Vortrag Erklärfilme als multimodale Kommunikationsform betrachtet, die das Spektrum der audio-visuellen Modi – Bewegtbild, Standbild, Grafik, gesprochene und geschriebene Sprache, Animation, Sound, Musik und Filmdesign – einsetzt, um das Kommunikationsziel einer erfolgreichen Erklärung zu erreichen. Entscheidend für das Verständnis multimodaler Kommunikationsformen ist es, dass die Rezipienten die intermodalen Relationen zwischen den einzelnen Modi erkennen und den Sinn der Orchestrierung eines komplexen Symbolsystems erfassen können. Der Vortrag verbindet eine Produktanalyse mit Befunden aus Rezeptionsstudien zu Erklärfilmen aus Wissenschaftssendungen des Fernsehens.



Vinzenz Hediger (Frankfurt)
Der dünne Firnis der Zivilisation. Beobachtung und filmische Aufzeichnung als Methode am Beispiel des humanethologischen Filmarchivs

Das Humanethologische Filmarchiv von Irenäus Eibl-Eibesfeldt und seinen Mitarbeitern umfasst achthundert Stunden filmisches Material sowie Ton- und Textaufzeichnungen aus einem Forschungszeitraum von über fünfzig Jahren. Den Kernbestand bilden eine Reihe von Langzeitstudien sowie filmische Dokumentationen von Feldversuchen zur Erforschung von infrakulturellen Komponenten des menschlichen Verhaltens. Dieser Beitrag geht auf die epistemologischen Voraussetzungen von Eibl-Eibesfeldts Arbeit ein und zieht überdies eine Verbindungslinie zu den künstlerischen Arbeiten von Werner Herzog.



Daniel Hornuff (Karlsruhe)
Broadcast Your Theory!

Längst ist das Internet nicht mehr nur Gegenstand, sondern auch Plattform wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Eine besondere Rolle fällt hierbei populären Videoportalen zu. Veranstalter wie Teilnehmer akademischer Symposion sehen in ihnen zunehmende Möglichkeiten, die Mauern der Elfenbeintürme zu überwinden. So verzeichnet das Netz eine steigende Zahl aufgezeichneter Vorträge und mitgeschnittener Podiumsdiskussionen, und auch immer mehr Vorlesungen, Seminargespräche, Interviews und eigens eingespielte Statements lassen sich finden. Es steht also zu vermuten, dass dieser ‚Public Turn‘ nicht ohne Auswirkung auf Stil, Habitus und sogar Inhalt des wissenschaftlichen Denkens bleibt. Der Vortrag geht der Frage nach der performativen Rolle von Theoretikern in Videoportalen nach. Kooperieren sie mit der medialen Logik der sozialen Netzwerke? Oder verweigern sie sich ihr? Inwiefern unterscheiden sich ihre Auftritte von TV-Sendungen, mit denen sich Theorie-Stars wie Marcuse, Adorno, Horkheimer oder Luhmann an Interessierte vermittelten – und die nun ihrerseits wieder durch die Videoportale geistern?



Angela Krewani (Marburg)
Der Klimawandel und seine filmische Repräsentation

Obwohl der Klimawandel und seine Folgen in der Medienkommunikation eine feste Rolle eingenommen hat, ist er dennoch ein Phänomen, dessen Repräsentation erhebliche Schwierigkeiten bedeutet. Denn (noch) basiert das Wissen über den Klimawandel und Veränderungen in der Umwelt entweder auf Tabellen und Graphen oder auf Simulationen, die die Auswirkungen des Klimawandels prognostizieren. Das Wissen um den Klimawandel ist in erster Linie medialisiertes Wissen.
        Um jedoch den Klimawandel in der Öffentlichkeit besser kommunizieren zu können – auch um die Notwendigkeit politischen Handelns zu unterstreichen - sind eine Reihe von Bildern entstanden, die diesen symbolisieren und im Sinne von ‚immutable mobiles‘ wiederum eigene Bedeutungen schaffen. Klimawandel ist von daher gesehen ein wissenschaftliches Thema, das in deutlicher Nähe zur öffentlichen Kommunikation steht und das sich sicherlich durch Popularisierung wissenschaftlichen Wissens auszeichnet.
        Vor diesem Hintergrund will sich der Vortrag auf Filme konzentrieren, die den Klimawandel thematisieren und diese Filme nach ihrem jeweiligen Wissen und epistemischen Bedingungen befragen. Dabei stehen die Visualisierung des Klimawandels wie auch dessen Einbindung in filmische Genres im Vordergrund. Angesichts der Nähe von wissenschaftlichem und populärem Diskurs kann davon ausgegangen werden, dass die Filme in die Wissenschaftskommunikation zurückwirken, denn diese ist Aufgrund ihrer prognostischen Natur auf Bilder ihrer Ergebnisse angewiesen. Damit kann die These vertreten werden, dass die Filme über den Klimawandel Wissen nicht nur kommunizieren, sondern auch konstituieren, hier somit beide Bereiche untrennbar ineinander fallen.
        In einem zweiten Schritt soll auf das sich vor allem im anglo-amerikanischen Raum konstituierende Genre des ‚Ecofilms‘ eingegangen werden, das gerne im Zusammenhang mit Eco-Criticism erwähnt wird. Eco-Criticism beansprucht den Stellenwert einer dekonstruktiven Wissenskritik. Es soll beleuchtet werden, welche Bedeutung das filmische Label für Konstitution und Kommunikation wissenschaftlichen Wissens im Film hat. Es wäre zu überlegen, inwiefern durch die Popularisierung und Medialisierung wissenschaftlichen Wissens neue visuelle Formen entstanden sind, die sich gegenüber der Konstitution wissenschaftlichen Wissens anders verhalten.



Thomas Metten, Philipp Niemann, Timo Rouget (Karlsruhe)
InVideo-Programmierungen statt Fußnoten? – Der populärwissenschaftliche Web-Clip auf YouTube

Bisherige Forschungsarbeiten zum populärwissenschaftlichen Film konzentrierten sich auf die epistemische, didaktische oder dokumentierende Funktion von Wissenschaftsfilmen in historischer Perspektive oder in ihrer Realisierung in aktuellen Fernsehsendungen. Von der Forschung unberücksichtigt bleibt die Vielzahl von existenten Wissensformaten auf der noch jungen Video-Plattform YouTube – die für Bewegbilder am meisten frequentierteste Website der Welt. In unserem Vortrag soll der Blick darauf gelenkt werden, welche populärwissenschaftlichen Darstellungen auf YouTube bestehen, und am Beispiel des mehrfach ausgezeichneten Clips „Von der Natur lernen. Die flüssigkeitsabweisenden Hautstrukturen von Springschwänzen“ das Potential solcher Darstellungen herausgearbeitet werden. Hierfür wird auf eine detaillierte Analyse des Videos sowie auf ein Forschungsinterview mit dem Filmemacher und wissenschaftlich Verantwortlichen zurückgegriffen, das im Rahmen des KIT-Projektes „Datenbank für Populärwissenschaft“ entstanden ist. Zusätzlich wurden die audiovisuellen Verstehenspotentiale des Webvideos im Rahmen einer auf Befragungen basierenden Rezeptionsstudie exemplarisch validiert.



Jutta Milde (Landau)
Verständliche Wissenschaft? Darstellungsformen im TV-Journalismus und deren Rezeption.

Für die mediale Vermittlung von Wissenschaftsthemen stehen TV-Journalisten eine Reihe von Gestaltungsmitteln und Erzählformen zur Verfügung. Diese können u.a. anhand ihrer Visualisierungen, dramaturgischen Elemente und ihres Sprachgebrauchs sowie anhand ihrer inhaltlichen Gestaltung unterschieden werden. Ziel des Beitrags ist, typische Gestaltungsmittel herauszustellen. Thematisch wird hierbei insbesondere auf die Berichterstattung über Schlüsseltechnologien wie die Molekulare Medizin oder Nanotechnologie fokussiert. Prototypisch lassen sich TV-Wissenschaftsfilme in die drei Vermittlungskonzepte „personalisiertes Fallbeispiel“, „klassischer Lehrfilm“ und „Experten-Diskurs“ unterscheiden. Auch hinsichtlich der Risiko-Nutzendarstellung sowie der Darstellung wissenschaftlicher Evidenzen zeigen sich typische Darstellungsmuster. Der zweite Teil des Beitrags widmet sich dann der Rezeption der TV-Wissenschaftsberichterstattung. Es soll die Frage beantwortet werden, welche Bedeutung unterschiedliche Darstellungsvarianten von TV-Wissenschaftsfilmen für die Verstehensleistungen der Rezipienten haben. Hier lässt sich ein unterschiedlicher Einfluss verschiedener verbaler und visueller Gestaltungselemente auf den Verstehensprozess belegen. Des Weiteren wird analysiert, wie Rezipienten die unterschiedliche Ausgestaltung bewerten und inwieweit dies Einfluss auf die Wahrnehmung und Bewertung des dargestellten Wissenschaftsthemas hat. Abschließend soll diskutiert werden, welche Bedeutung die präsentierten Befunde für die Rezeption von Wissenschaftsfernsehen haben, um Rückschlüsse auf die Gestaltung audio-visueller Wissenschaftsfilme ziehen zu können.



Claudia Pinkas-Thompson (Karlsruhe)
„From the Fish’s Point of View“. Die wissenschaftliche Visualisierung der Meerestiefen durch filmische Bewegtbilder

Bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts bildeten die Tiefen der Ozeane weitgehend unerforschte und visuell unerschlossene Regionen. Wissenschaftliche Bilder, die die topographische Beschaffenheit des Meeresgrundes sowie die hier lebenden Organismen zeigten, waren äußerst selten und beschränkten sich im Wesentlichen auf bathymetrische Karten, die aus Tiefenlotungen gewonnene Messdaten visualisierten, sowie auf Zeichnungen der Meeresflora und -fauna in naturkundlichen Atlanten. Um letztere anzufertigen, mussten die Meeresbewohner zunächst mittels Schleppnetzen aus dem Wasser extrahiert werden, wobei Umgebungs- und Druckveränderungen auf die empfindlichen Organismen einwirkten und sie oftmals stark beschädigten. Die Entwicklung fotografisch-filmischer Techniken zur Erstellung von Unterwasseraufnahmen, die es ermöglichten, die marine Ökosphäre „From the Fish’s Point of View“ (Ward 1912) zu zeigen und zu studieren, wurde daher im frühen 20. Jahrhundert von den noch jungen Meereswissenschaften erheblich mit vorangetrieben. Besonders der Einsatz kinematographischer Apparate zur Aufnahme von „Unterseefilmen“, so eine verbreitete Meinung, könne „über die niedere Tierwelt des Meeres, ihre Lebens- und Bewegungsweise äusserst interessante Ausschlüsse geben“, wobei „gerade die Bewegung [...] für das richtige Verständnis dieser Organismen und ihrer Lebensweise von besonderer Wichtigkeit“ erschien (Anonymus: Kinematographische Erforschung der Nordsee, 1914).
        Am Beispiel zweier Pioniere der Unterwasserkinematografie, John Ernest Williamson und Jean Painlevé, behandelt der Vortrag die Erschließung und Sichtbarmachung des ‚unsichtbaren Kontinents‘ durch filmische Bewegtbilder. Dabei werden sowohl dispositive Arrangements der hierfür entwickelten submarinen Beobachtungskammern, Tauch- und Aufzeichnungsapparate und ihre Funktion als „Zeitmikroskope“ (Painlevé) als auch generelle Affinitäten zwischen dem ‚bewegten Element‘ und den filmischen Bewegtbildern in den Blick genommen.



Ramón Reichert (Wien)
Röntgenstrahlen im Kino. Zur Bildkultur der Röntgendiagnostik

Das Zusammenspiel von Röntgen- und Kinotechnik führte um 1900 zur Verallgemeinerung und Popularisierung des klinischen Blicks in das verborgene Körperinnere des Menschen. Es waren jedoch weniger die technischen Rahmenbedingungen im Abbildungsvorgang, sondern spezifische Referenzbilder der klassisch-bürgerlichen Sexualmoral, die zur vordergründigen didaktischen Evidenzstiftung und Aufmerksamkeitssteigerung benutzt wurden. Erotisch-voyeuristische Kinotechniken popularisierten das männliche Blickregime unter die Haut und überlagerten das klinische Röntgenbild mit geschlechtlichen Inszenierungen.



Sven Stollfuß (Mannheim)
It Is Hard to Beat a Good Movie. Live-Cell Imaging, Mikrokinematographie und der Imperativ filmischen Bildwissens

Das Wissen der modernen Medizin und Biologie über ‚den Menschen‘ und ‚das Leben‘ ist medientechnisch verfasst und namentlich mit der Erfindung des Kinematographen entscheidend umgebaut worden. Aufgrund der postulierten Sichtbarkeitspräzision avanciert das Bewegtbild schnell zu einem Erkenntnismedium sui generis. Vor allem die mikrokinematographische Segmentierung von Zellmaterial ist nachhaltig eingeschrieben in medizinisches und biologisches Wissen (vgl. auch Landecker). Rund 100 Jahre später hat nun das digitale Live-Cell Imaging das Erbe der frühen Mikrokinematographie angetreten. Auch wenn die medientechnischen Voraussetzungen andere sind, hat sich die Rhetorik im Umgang mit der digitalen Lichtscheibenfluoreszenzmikroskopie als neuer Bewegtbildtechnologie kaum geändert. Es sind dezidiert „die Filme“, die dabei geholfen haben, seit langem bestehende Fragen – etwa in Hinblick auf raumzeitliche Dynamiken in der Morphogenese embryonaler Entwicklungen – zu beantworten.
        Die Unterscheidung nach ‚Bild‘ und ‚Bewegtbild‘ ist dabei auch keine geringe, sondern bezeichnend angesichts des Verständnisses um das auch jüngst extensiv diskutierte ‚epistemische Potential der Bildlichkeit‘ gerade in den Naturwissenschaften. Im Verständnis einer ‚Visuellen Wissenskultur‘ werden im Rahmen des Vortrags schlaglichtartig Entwicklungen um 1900 und 2000 hinsichtlich des Einsatzes von Bewegtbildmedien in Medizin und Biologie in Augenschein genommen. Die entsprechenden Erkenntnisdynamiken sind – obschon der medialen Transformationen – im Sinne eines filmischen Bildwissens zu begreifen, gründen sie doch auf einem dem Filmbild eigenen Modus im Verhältnis von Sichtbarkeit und Wissen. Es wird zu zeigen sein, dass gerade das filmische Bildwissen nach wie vor als Konstante innerhalb erkenntnistheoretischer Konfigurationen in der modernen Medizin und der Biologie auszuweisen ist, deren Programm das Wissen um ‚den Menschen‘ und ‚das Leben‘ darstellt.



Janina Wellmann (Lüneburg)
Entwicklung in Bewegung. Embryologische Filme um 1900.

Die Embryologie ist die Wissenschaft von der Entwicklung des Embryos, von Wachstum und Ausdifferenzierung der Zellen bis zum vollständigen Lebewesen. Sie entsteht als eigenständige wissenschaftliche Disziplin zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Rund einhundert Jahre später, fast unmittelbar nach der Erfindung der Cinematographie, wird die neue Technik bereits zur Aufzeichnung der Entwicklung von Hühnerembryonen eingesetzt.
        Tatsächlich scheint das Erkenntnisinteresse der Embryologie kongenial in dem neuen Medium erfaßt: Der Film erlaubte es, den Vorgang der Entwicklung in Gänze zu verfolgen, über viele Stunden und in unterschiedslosem Detail; das Gesehene ließ sich zum ersten Mal beliebig oft wieder vor Augen führen, vor- und rückwärts betrachten, analysieren und wieder zusammensetzen. In meinem Vortrag werde ich den Einsatz visueller Darstellungen in der Embryologie von der Bildserie bis zum Film verfolgen und diskutieren, welchen Einfluß die verschiedenen Bildformen und –medien auf das Entwicklungsdenken im Besonderen und das biologische Denken von Prozessen im Allgemeinen hatten. Im Zentrum meiner Betrachtung stehen Verfahren der Zeitraffung und die Frage der Manipulation von Zeit. Dabei werde ich, gegen die vorherrschende Meinung, argumentieren, daß die Cinematographie um 1900 wenig neue Erkenntnisse hervorbrachte. Vielmehr schrieb sie die seit den Anfängen der Embryologie etablierte Epistemologie mit neuen, technischen Mitteln fort.